Gern erträumen wir uns glitzernde Zukunftswelten. Was viele dabei übersehen: Zwischen den gläsernen Türmen von morgen werden sich auch störrische Altbauten behaupten. Denn kein Weg führt im Gleichschritt nach Utopia. Was heißt das für Gesellschaft und Unternehmen?
Das Smartphone ist ein uralter Hut. Erstmals beschrieben wurde es schon im Jahr 1910, und zwar in der in Berlin veröffentlichten Essaysammlung „Die Welt in 100 Jahren“. Verblüffend hellsichtig prognostizierte damals ein amerikanischer Journalist namens Robert Sloss: „Die Bürger der drahtlosen Zeit werden überall mit ihrem ‚Empfänger‘ herumgehen, der irgendwo, im Hut oder anderswo, angebracht und auf eine der Myriaden von Vibrationen eingestellt sein wird, mit der er gerade Verbindung sucht.“
Vor mittlerweile 110 Jahren ahnte Sloss auch bereits, was die sozialen Auswirkungen dieser Jahrhundert-Erfindung sein würden: „Wenn aber dieser Apparat erst so vervollkommnet sein wird, daß auch der gewöhnliche Sterbliche sich seiner wird bedienen können, dann werden dessen Lebensgewohnheiten dadurch noch weit mehr beeinflußt werden, als sie dies schon jetzt durch die Einführung unseres gewöhnlichen Telephones geworden sind.“ Man habe dann nämlich, so der Autor, jederzeit und überall Zugriff auf Nachrichten, Börsenkurse, Konzerte oder andere Kulturgenüsse.
Der Optimismus dieser Prophezeiung wird noch übertrumpft von einem Buch, das schon 1771 erschien, also noch vor der Französischen Revolution: „Das Jahr 2440“, ein Zukunftsroman des Franzosen Louis-Sébastien Mercier. Darin schilderte der Autor vor 250 Jahren einen von der Vernunft regierten Staat, in dem alles besser und sauberer ist als zu Merciers Zeiten. Statt Religionen verehren alle Menschen die Wissenschaften. Jeder Bürger hat einen Arbeitsplatz. Die Erfindung eines speziellen Apparats hat alle Kriege beendet: Die Maschine imitiert die Schreie von Verwundeten und hat kriegslüsterne Fürsten auf diese Weise ein für alle Mal von ihren Vorhaben abgebracht.
Beide Bücher – und die meisten anderen Utopien – haben allerdings ein Problem: ihren Absolutheitsanspruch. Die herbeifantasierten Entwicklungen beglücken ausnahmslos alle Bürger, die technologischen Erfindungen sind Meilensteine auf dem Marsch in eine bessere Zukunft, von niemandem in Frage gestellt. Diese Zukunft sieht also für alle „Bewohner“ gleich rosig aus, und was genauso wichtig ist: Sie kommt für alle zur selben Zeit. Doch so einfach funktioniert das in Wirklichkeit nicht.
Um auf das Smartphone zurückzukommen: Zwar wurde es durch Steve Jobs im Jahr 2007 tatsächlich auf den Weg zur begehrten Massenware gebracht, die den Alltag ihrer Besitzer umkrempelte wie von Robert Sloss vorausgesagt. Doch in weniger industrialisierten Weltgegenden können sich viele Menschen solch ein Gerät gar nicht leisten. Und selbst im Hochtechnologieland USA gibt es bis heute zahlreiche Smartphone-Verweigerer, die sich ihr Leben nicht vom Zauberapparat diktieren lassen wollen. Beides haben Visionäre meist gar nicht auf der Rechnung.
Das Problem der meisten Utopien ist ihr Absolutheitsanspruch
Wann immer Zukunft am Reißbrett entworfen wird, als geschlossener, kühner Entwurf, wird sie im Laufe der Zeit mit der Widersprüchlichkeit und Komplexität des wirklichen Lebens konfrontiert. Ein Beispiel dafür ist die südamerikanische Hauptstadt Brasília: ein Zukunftsentwurf aus der Retorte, einer der ganz wenigen in dieser Größenordnung, die man tatsächlich in die Tat umsetzte. Im Jahr 1956 lag ihr heutiges Gebiet weitab jeder Zivilisation, fast in der geografischen Mitte des damals noch strukturschwachen Entwicklungslandes Brasilien. Doch vor dem geistigen Auge von Stadtplaner Lúcio Costa und Stararchitekt Oscar Niemeyer erstreckte sich bereits das Kerngebiet der heutigen Zweimillionenmetropole mitsamt aller Regierungsgebäude und der Kathedrale – alles zusammen auf einem Grundriss in Form eines gigantischen Kreuzes.
Und so wurde Brasília dann auch gebaut, quasi auf der grünen Wiese. Zum großen Wurf entwickelte sich die architektonisch monumentale Stadt allerdings nicht. Schon bald nach der Erstbesiedelung in den Sechzigerjahren wurden einkommensschwächere Bewohner in die ungeplant wuchernden Außenbezirke abgedrängt; zwischen den Betonbauten der Innenstadt konnte sich kein buntes kulturelles Treiben entwickeln; soziokulturelle Einrichtungen blieben Mangelware in der Retortenstadt. Selbst Architekt Niemeyer nannte sein „Experiment Brasília“ im Jahr 2001 „nicht erfolgreich“.
Ist die Zukunft der Städte schon ein kaum noch beherrschbares Komplexitätsproblem für Planer und Reformer, so gilt das erst recht für ganze Gesellschaften – oder gar einen so vielfältigen Kontinent wie Europa. Das mussten die Sozialwissenschaftler der Bertelsmann-Stiftung erleben, die im Jahr 2006 eine „Zukunftszeitung“ mit dem Titel „ZwanzigZwanzig“ verbreiteten. Darin entwickelte die Gütersloher Denkfabrik vor 14 Jahren ein „wünschenswertes“, aber möglichst realistisches Szenario vom Alltagsleben im zusammengewachsenen Europa des Jahres 2020. Also genau jetzt.
In einem der Texte lässt die Stiftung eine fiktive Mitarbeiterin des 2020 existierenden „Europäischen Außenministeriums“ unter anderem erklären: „Die Toleranz der Religionen ist gewachsen, weil wir uns innerhalb der großen EU mit ihren 35 Staaten und gut einer halben Milliarde Menschen jetzt zunehmend gegenüber anderen großen Blöcken in der Welt definieren. Nicht mehr gegenüber Einzelstaaten oder -kulturen.“ Aus heutiger Sicht ist das nicht ganz der Stand der Entwicklung, sondern mehr denn je ein schöner Wunschtraum.
Stattdessen ist nicht einmal das im Jahr 2006 noch befürchtete „Europa der zwei Geschwindigkeiten“ eingetreten, bei dem eine florierende Kernzone das Entwicklungstempo vorgibt und die Randgebiete abgehängt zu werden drohen. Vielmehr gibt es heute ein Europa der gegensätzlichen Integrationsrichtungen: Anfang 2020 hat Großbritannien die jetzt noch 27 Mitglieder umfassende Union verlassen, während sich ein „Ost-Block“ integrationskritischer Mitgliedsländer herausbildet, südliche EU-Staaten hingegen auf mehr finanzielle Vergemeinschaftung drängen – und andere Nationen weiterhin auf ihre Aufnahme warten. Da war die Wirklichkeit mal wieder nicht im Gleichtakt mit den Utopisten.
Günstigstenfalls ist es eine Mehrheit, oft nur eine elitäre Minderheit, die in der Realität profitiert, wenn eine Utopie tatsächlich umgesetzt wird. Andere Gruppen geraten gleichzeitig ins Hintertreffen – weil sie „noch nicht so weit sind“, sagen dann die Progressiven gern etwas mitleidig über Kritiker der von ihnen als Fortschritt angepriesenen Entwicklung. Einer, der diese unterschiedlich schnellen und teilweise sogar gegenläufigen Entwicklungen als Problem für konkret utopische Zukunftsentwürfe erkannte, war der 1977 verstorbene Philosoph Ernst Bloch. Er prägte den Begriff der „Ungleichzeitigkeit“.
In Deutschland, so schrieb der von Marx beeinflusste Bloch 1935, hätten einige historische Revolutionen noch gar nicht stattgefunden, wie sie insbesondere Frankreich schon hinter sich habe. Während dort das Bewusstsein bereits höhere Stufen erklommen habe und eine egalitäre Gesellschaft näher gerückt sei, seien hierzulande etwa Kleinbauern oder kleine Angestellte rückständig und in ihrer Produktionsweise vom Kapital abhängig geblieben.
Mit dieser historischen Schieflage oder „Ungleichzeitigkeit“ der Entwicklung erklärte sich Bloch damals, warum viele Menschen in Deutschland noch nicht in der „Moderne“ angekommen und stattdessen vom Nationalsozialismus begeistert waren. Bewusstseinsentwicklung und damit der gesellschaftliche Fortschritt waren also für Bloch nicht etwas, das nach deterministischen Gesetzen für alle gleich abläuft, wie es viele Marxisten glaubten. Für ihn gab es durchaus widersprüchliche Zeitströmungen, die zu gegenläufigen und verworrenen Entwicklungsprozessen führen.
Internationale Konzerne sind in gewisser Weise so vielschichtig und komplex wie kleine Staaten. Ist eine planvolle Weiterentwicklung solcher Großunternehmen – etwa im Rahmen der Digitalisierung – zum Scheitern verurteilt, weil die „Ungleichzeitigkeit“ der Bewusstseinsstufen in der Belegschaft jede unternehmerische Vision durchkreuzt? Welf Schröter, Verleger der Schriften von Blochs Ehefrau Karola und Experte für den sozialen Wandel der Arbeitswelt, glaubt das nicht. Er warnt aber vor einer rein technikgetriebenen Unternehmenstransformation. Wenn die Reformer dabei nicht auf die Zukunftsängste von Traditionalisten im Betrieb eingingen, führe das höchstens zu dramatisch ansteigenden Burnouts und letztlich einer Spaltung der Belegschaft: „Ich erreiche nur, dass die eine Hälfte der Belegschaft mit dem Smartphone herumläuft, die andere weiterhin mit dem Bleistift.“
Eine Konzernleitung tue also gut daran, ihre Zukunftsvision mit Prozessen für die notwendige Bewusstseinsbildung im Unternehmen zu verknüpfen. „Das Allerwichtigste ist“, so Schröter, „dass man einen Partizipationsansatz fährt und das Tempo der Technikimplementierung an die Geschwindigkeit der ungleichzeitigen Bewusstseins- und Lernprozesse in den Teams bindet. Es kommt also sehr stark auf eine tragfähige Sozialpartnerschaft und Unternehmenskultur an.“
Aussicht auf Erfolg hat jede noch so optimistische Zukunftsvision am Ende nur dort, wo die selbst ernannte Avantgarde nicht im Kommandoton den Takt vorgibt, sondern auch die Langsameren behutsam mitnimmt. Sei es in Unternehmen, Städten oder ganzen Gesellschaften.
Dieser Artikel erschien ursprünglich in Heft 4/2020 des Mitarbeitermagazins FOLIO von Evonik.
Guter Artikel und eine gute Nachricht, dass das schöne Neue nicht alle beglücken wird. In Dystopien wie 1984 sind die Altbauviertel der Arbeiter meist die Keimzelle des Widerstands gegen den Terror der herrschenden Glückseligkeit.
Hm, wenn ich mich an „1984“ richtig erinnere, sind die Prols aus den Arbeiterslums aber nur eine marginalisierte und in jeder Hinsicht kontrollierte Masse an Fortschrittsverlierern, die der „EngSoz“-Elite in keiner Weise gefährlich werden kann. Darum ist es ja eine Dystopie.