Frank Schirrmachers früher und unerwarteter Tod hat in der deutschen Medien-Szene berechtigte Bestürzung ausgelöst, die auch Tage danach immer noch anhält. Es ist ja so, wenn ein bedeutender Journalist mit 54 plötzlich von der Bühne abtreten muss, dass dann auch wir unbedeutenden uns kurzfristig fragen: Was mache ich eigentlich mit meinem Journalistenleben? Wofür stehe ich? Für welche Positionen? Welche Wahrheiten? Welche Ambitionen? Und dann erschrickt man womöglich …
Oder man erinnert sich, wie manche von denen, die berufener sind als ich, an seinen persönlichen Schirrmacher-Moment. Den hatte ich indes auch, und in meinem Fall geht er so:
Im Frühsommer 2008 moderierte ich ein Gespräch für das Konzernmagazin des Essener Bauunternehmens Hochtief. Es trafen aufeinander: der damalige Hochtief-Vorstandschef, Herbert Lütkestratkötter, und eben Schirrmacher, der FAZ-Mitherausgeber, damals 49 Jahre alt. Thema war die alternde Gesellschaft, darüber hatte Schirrmacher „Das Methusalem-Komplott“ geschrieben, und für den Essener Baukonzern stellten sich in der Demographie-Debatte ebenfalls dringliche Fragen: Was für Gebäude muss man eigentlich für ein vergreisendes Deutschland bauen? Was für eine Infrastruktur braucht Deutschland 2050? Ort des Interviews war Schirrmachers Büro im Frankfurter FAZ-Gebäude. Es wurde ein recht lebendiges Gespräch zweier ungleicher Gesprächspartner: Der Praktiker vom Bau und der Intellektuelle vom Elfenbeinturm konnten überraschend gut miteinander.
In solchen Situationen bin ich immer froh, dass ein kleines digitales Aufzeichnungsgerät mitläuft, denn es ist schwer genug, den Gesprächsfaden in der Hand zu halten und bei Bedarf flexibel die jeweils passende Frage aus dem Köcher zu ziehen – wer da auch noch die Antworten mitstenographieren müsste, würde jeden hitzigen Diskurs im Keim ersticken („Moment bitte, nicht so schnell…“). Wobei ich nicht mal stenographieren kann.
Aber ich hatte ja alles „im Kasten“. Verabschiedete mich schließlich, artig dankend, und machte mich auf die lange Bahnfahrt nach Hause. Wissend, dass ich die Stunden im ICE produktiv nutzen konnte: mit der Abschrift des wirklich sehr langen und intensiven Gedankenaustauschs der beiden klugen Köpfe. Frohgemut machte ich mich ans Werk, schaltete das Diktiergerät ein – und stieß in ein stundenlanges Nichts. Garnichts. Nada. Niente. Das Gerät hatte eine Datei aufgezeichnet, die exakt der Gesprächslänge entsprach. Aber es war auf der ganzen Strecke kein Wort, kein Ton, kein noch so dürres Tönchen zu hören.
Was tun? Nie wieder würde man die beiden Männer mit den vollen Terminkalendern gemeinsam an einen Tisch bringen. Die Schande des Eingeständnisses technischen (oder menschlichen?) Versagens war schon schwer genug zu ertragen. Und in dieser Situation lernte ich eine Seite meines Gehirns kennen, die mir bis dahin nicht aufgefallen war: die außergewöhnliche Speicherfähigkeit eines nicht-digitalen Bio-Chips. Unter dem Druck der Situation rekapitulierte ich das gesamte Gespräch noch während der Bahnfahrt aus dem Gedächtnis.
Man glaubt nicht, wie detailreich sich so ein Hirn erinnern kann, wenn es muss. Ein Wort gab das andere, ein Argument das nächste, Worte fügten sich zu Sätzen, auf Argumente folgten Repliken, Einwürfe und Unterbechungen – es war ganz unfassbar. Dabei war ich der Meinung gewesen, gar nicht richtig zugehört zu haben – bzw. immer nur im Hintergrund auf Schlüsselreize gelauert zu haben, um dann dem Gespräch durch einen Impuls eine neue Richtung geben zu können.
Doch es war alles noch da. Gespeichert auf einer unzuverlässigen, trügerischen, störanfälligen, organischen, alles andere als festen Festplatte. Ich brachte es zu Papier, und dann gestand ich den Protagonisten zerknirscht ein, was geschehen war – und ob sie denn diese erinnerte Fassung bitteschön als Grundlage für ihre Überarbeitung des Interviews akzeptieren wollten? Es sind fünf Seiten im Heft daraus geworden, sie liegen gerade noch einmal vor mir. Liest sich ganz locker, ganz informativ. An einer Stelle sagt Schirrmacher: „Es gibt wissenschaftliche Belege, dass die Fähigkeiten des Gehirns im Alter eben nicht zwangsläufig nachlassen.“ Ich kann das seither nur bestätigen.
Und der Schirrmacher-Moment? Das war der, als ich von ihm die Datei mit der freigegebenen Fassung gemailt bekam. Er hatte an seinem Part genau ein Komma geändert.
Das ist seither mein Maßstab für die Souveränität eines Geistesmenschen.
Wow, das werde ich demnächst auch mal versuchen, bisher habe ich nämlich wirklich Bedeutsames meistens nicht aufgeschrieben, weil ich vergessen hatte, das Diktiergerät einzuschalten.