Die Berliner Messe ist 200 Jahre alt. Zum Chronikband durfte ich drei Kapitel beisteuern, die den Aufschwung des preußischen Residenzstädtchens zur imperialen Metropole Wilhelms II nachzeichnen – einschließlich einer Weltausstellung, die keine war.
Als im Jahr 1822 Berliner Kaufleute eine „Ausstellung der Erzeugnisse vaterländischen Gewerbefleißes“ organisierten, hatte die preußische Residenzstadt noch keine 200.000 Einwohner. Dass die bescheidene Gewerbeschau einmal den Beginn des Messestandorts Berlin markieren würde, konnte niemand ahnen. Ebensowenig, dass die Stadt im Sog der beginnenden Industrialisierung einen rasanten Aufschwung nehmen würde, der sie bis zur Jahrhundertwende in den Rang der europäischen Weltmetropolen Paris und London katapultierte. Was für schwindelerregende, berauschende, letztlich wohl allzu kühne Entwicklungssprünge dies auch für die Mentalität des neuen Hauptstadtbürgertums mit sich brachte, habe ich für den Jubiläumsband der Berliner Messe recherchieren dürfen – eine Arbeit, für die ich zum ersten Mal seit vielen Jahren wieder mit wissenschaftlichem Anspruch wirtschaftshistorisch forschen und schreiben konnte.
Doch zunächst ging es um die Frage, wo eigentlich vor diesem beispiellosen Aufstieg „die Messen gelesen“ wurden – und was historisch den Erfolg eines Messestandorts ausmachte. Dazu untersuchte ich Frankfurt am Main und Leipzig, seit dem Mittelalter die beiden wichtigsten Messestädte des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation.
Es läuft darauf heraus, dass beide Messeplätze von wirtschaftsgeographischen Alleinstellungsmerkmalen, aber auch von fürstlichen und im Falle Frankfurts sogar kaiserlichen Privilegien profitierten. Dort, wo sich uralte Handelswege durch ganz Europa kreuzten, wo aber auch Sitze der Macht und der Kultur entstanden waren, ließen sich nun einmal bevorzugt Geschäfte machen. Und da konnte Berlin vor dem 19. Jahrhundert noch keineswegs mithalten. Doch das sollte sich mit dem Aufstieg der Hohenzollern immer schneller ändern: Der Bedarf des Hofes und des Militärs brachte Geld, aber auch Geist in die Stadt. Und die Stadt nutzte ihre Chancen.
Der Aufschwung gipfelte – dank des Turboladers Industrialisierung – im kaiserlichen Berlin Wilhelms II, das für kurze Zeit tatsächlich ein Nabel der Welt war: Hierher kamen die Größten aus Wissenschaft und Kultur, hier spielte die Musik, blühte das Theater, erstrahlte die Welt im Glanz der beginnenden Elektrifizierung. Ein ungeheurer Bauboom wirbelte Berlin vor dem Ende des 19. Jahrhunderts durcheinander, riss das Alte nieder, schuf allerorts „Leuchttürme“ der Moderne und der Technisierung. Man war nun Reichshauptstadt, mit Beginn der Kolonialisierung sogar Mittelpunkt eines kurzlebigen Weltreichs. Eine Woge des Nationalstolzes durchlief die Stadt und schaukelte sich mancherorts zum Größenwahn auf.
In diesem selbstbewussten Überschwang veranstalteten Kaufleute und Unternehmer 1896 einmal mehr eine Gewerbeausstellung. Diesmal sollte sie alle Grenzen des bisher Dagewesenen sprengen – und sogar größer werden als die Pariser Weltausstellung von 1889. Das Problem war nur: Der Kaiser wollte keine internationale Schau mit Ausstellern aus aller Welt. Er fürchtete, im Vergleich mit dem altehrwürdigen Paris könne sich Berlin blamieren. Also durften nur Berliner Unternehmen ausstellen. Doch da die Stadt industrielle Naturgewalten wie Siemens, AEG, Borsig und Schering beherbergte, lief das Ergebnis fast auf denselben globalen Prunk und Anspruch hinaus.
Die „Berliner Gewerbeausstellung“ von 1896 im Treptower Park geriet zu einer Mischung aus Leistungsschau, Nationalzirkus und Vergnügungspark unter freiem Himmel, die Millionen begeisterte – trotz eines dauerhaft verregneten Sommers. Und trotz (oder wegen) einer Zusatzattraktion mit Abgründen: Für die „Deutsche Kolonial-Ausstellung“ waren mehr als 100 Menschen aus den annektierten Gebieten des Reiches in Afrika und Neu-Guinea angeworben worden. Vertragsgemäß mussten sie auf dem Ausstellungsgelände, wie in einem Menschen-Zoo, sich selbst und ihre vermeintlich primitive Landeskultur zur Schau stellen. Zudem sollten sie noch demütigende „rassenkundliche“ Begleitforschungen über sich ergehen lassen, was viele indes verweigerten.
So trübte kolonialistischer Hochmut das glanzvolle Spektakel in der Reichshauptstadt – gut zwei Jahrzehnte vor dem Fall des Imperiums. In die wechselvolle Geschichte des Messestandorts Berlin ist das Jahr 1896 damit dauerhaft eingeschrieben: als Symbol des schmalen Grades zwischen Leistungskraft und Hybris. Doch trotz dieser Ambivalenz – als Wirtschaftshistoriker und Journalist wäre ich damals allzu gern durch den Treptower Park gestreift. Sogar im Dauerregen.