Das Wunder von Lübeck

Mitten im Corona-Lockdown wurde ich Zeuge, was die deutsche Industrie kann, wenn sie will – und wenn man ihr keine Knüppel zwischen die Beine wirft. Während die Wirtschaft ringsum gelähmt war, vervierfachte der Dräger-Konzern innerhalb weniger Monate die Produktion von Beatmungsgeräten für Kliniken in aller Welt.

Die Autobahn kam mir damals seltsam surreal vor. Die wenigen Fahrzeuge an diesem Werktag schienen aufgrund einer stillen Vereinbarung alle mit Tempo 120 dahinzugleiten, ohne Überholmanöver, obwohl die Piste so frei war wie sonst höchstens sonntagnachts um zwei. Nicht ein einziger Lkw unterwegs. Alles war gedämpft: Bewegung, Geräusche, Stimmung. Corona-Lockdown in Deutschland.

Es ist noch nicht lange her – und vielleicht nicht mehr lange hin. Gerade scheint es die Politik angesichts erneut steigender Infektionsratne wieder zu jucken, mit möglichst drastischen Maßnahmen Aktivismus zu demonstrieren. Aber beim ersten Mal, dort auf der Autobahn nach Lübeck, mit journalistischer Ausnahmebefugnis zum Überqueren der geschlossenen Landesgrenze nach Schleswig-Holstein, bekam ich einen sinnlichen Eindruck davon, was das heißt: ein ganzes Land einschließlich seiner Wirtschaft in Stillstand zu versetzen. Es fühlte sich nicht gut an.

Fast schien sich die allgemeine Lähmung fortzusetzen, als ich das Dräger-Werk in der Revalstraße betrat. Hier, in der 2017 eröffneten „Zukunftsfabrik“, herrschte eine erstaunliche Ruhe. Von der Galerie im ersten Stock aus sah ich auf dem aufgeräumt wirkenden Hallenboden kein Zeichen von Hektik, hörte keine laustarken Kommandos, nahm keinerlei improvisiertes Chaos wahr. Wenige Menschen bewegten sich gemächlich von A nach B. Ab und zu brachten Elektrofahrzeuge Teile-Nachschub zu den Fertigungsinseln.

Und doch geschah hier ein kleines Wunder. Vielleicht nicht von der biblischen Dimension der Speisung der Fünftausend mit fünf Broten und zwei Fischen. Dafür aber mit der menschlichen Perspektive, vielen Tausend Covid-19-Patienten in aller Welt eine intensivmedizinische Beatmung zu ermöglichen. Die Medizinsparte des Technologiekonzerns Dräger vervierfachte in dieser einen hochmodernen Halle innerhalb weniger Monate die Zahl der hergestellten Beatmungsgeräte. Geräuschlos, dafür umso effizienter organisiert.

Wie das möglich wurde, wie man verhinderte, dass die weltweiten Zulieferketten unter dem immensen Druck der Situation rissen, wie man Genehmigungen zur Not in 24 Stunden besorgte, wie man das eigene Gesundheitsrisiko möglichst minimierte und sich (neben dem Gewinninteresse) unter das gemeinsame Ziel des Helfenwollens stellte, um eine maximale Produktionsausweitung zu schaffen – das alles können Sie in meiner Geschichte im aktuell erschienenen Drägerheft nachlesen: hier.

Was mich am meisten beeindruckte, war nicht, dass „einer der führenden G7-Staaten“ in Lübeck erfolglos nach 100.000 Geräten angefragt hatte (weil nicht einmal alle Hersteller der Welt zusammen eine solche Bestellung bedienen könnten). Sondern, dass die so viel gescholtene und von immer mehr Narren für überflüssig gehaltene deutsche Industrie eben doch bisweilen Dinge möglich machen kann, die man nicht für möglich gehalten hätte. Auf ihre weltweit so sprichwörtliche Weise.

Und dieses Mal, dieses eine Mal, wurde sie dabei politisch nicht behindert. Denn auch die Bundesregierung und die von ihr gelenkten Behörden benötigten ja die Geräte aus Lübeck, um Erfolge im Kampf gegen Corona dokumentieren zu können. Also halfen sie mit Genehmigungen und „kurzen Dienstwegen“, wo sie konnten.

Aber man sollte sich keinen Illusionen hingeben: Es werden sich schon progressive Ideologen finden, die auch diese Erfolgsgeschichte für ein Relikt aus der zum Glück überwundenen Zeit alter, weißer Männer und ihrer technischen Spielereien halten. Mal sehen, wie der nächste Lockdown läuft.

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